Erscheinungsort: P.S.
Erscheinungsdatum: 22. August 2003
Sparprogramm bei
der IV
Behindert oder krank – ein
Politikum
Leistungen
für Chronischkranke sollen künftig nicht mehr von der IV finanziert
werden, sondern nur noch solche für Behinderte. Eine Wortklauberei mit
gravierenden Folgen für die Gesundheitsligen und Betroffenen.
Stefan
Müller
Seit Jahren leidet Monika Imboden*
an starken Arthrose-Schmerzen. Auf Anraten ihres Arztes sucht sie die Rheumaliga
auf und will sich wegen Fragen rund um ihren Arbeitsplatz beraten lassen. Zu
ihrem Erstaunen weist sie dort die Sozialarbeiterin ab: „Solange Sie
keine IV-Rente beziehen oder mindestens zehn Prozent invalid geschrieben sind,
können wir Ihnen leider nicht helfen.“
Solche
unerfreulichen Szenen erwartet zum Beispiel die Rheumaliga, wenn das Bundesamt
für Sozialversicherung (BSV) ihre neue Subventionspraxis durchsetzt wie
angekündigt. Ganz nach seiner Gepflogenheit will nun Bundesrat Pascal Couchepin
im Bundesamt für Sozialversicherung (BSV), auch bei der IV, gründlich
aufräumen. Das BSV hat den Wink verstanden. Im Frühling teilte es seine neue
Subventionspraxis per Rundschreiben den Gesundheitsligen mit, die für die
Beratung und Betreuung von Krankheitsbehinderten Beiträge von der IV erhalten.
Danach sollen nicht mehr den „Kranken“, sondern nur noch den „eigentlichen“
Behinderten IV-Gelder zufliessen. Weil diese aber einen wesentlichen Teil der
Betriebsmittel ausmachen, wären einzelne Ligen in der Folge gezwungen ihre
Leistungen drastisch abzubauen.
Kern der
neuen Subventionspraxis ist der restriktiv – noch restriktiver als jetzt –
ausgelegte Invaliditätsbegriff. Als invalid gilt nämlich neu nur noch, wer
bereits eine IV-Leistung bezieht oder mindestens zu zehn Prozent invalid ist,
schriftlich attestiert von der IV.* Überdies müssen die Ligen mindestens
fünfzig Prozent solch „behinderter“ Menschen betreuen, damit sie überhaupt noch
in den Genuss von IV-Geldern kommen.
Schneller rentenabhängig
In der Praxis zeigt sich indessen, dass
sich in vielen Fällen nur schwer feststellen lässt, wer nun wegen einer
chronischen Krankheit als "behindert" oder eben als
"invalid" im Sinne der IV gilt, vor allem wenn diese Menschen gar
keine Leistungen der IV beanspruchen wollen. So erstaunt es kaum, dass die
Begriffe unterschiedlich interpretiert werden. Die amtlich beglaubigte
Invalidität und deren Folgen stossen denn bei den betroffenen Organisationen
auf grosses Unverständnis. Thomas Bickel, Sekretär der Schweizerischen
Gesundheitsligen-Konferenz (Geliko) bezeichnet die geplante Praxisänderung des
BSV schlicht als „unsinnig und unrealistisch“. Er hat insbesondere auch
sozialpolitische Bedenken. „Wenn die Ligen ihre Leistungen abbauen müssen,
rutschen Menschen, deren Erwerbsunfähigkeit durch eine chronische Krankheit
beeinträchtigt ist, schneller in die Rentenabhängigkeit.“ Dies wiederum treibe
die IV-Ausgaben in die Höhe, ebenso die volkswirtschaftlichen Kosten. Und das
sei genau das Gegenteil von dem, was angestrebt werde. Umgekehrt müssten all
jene chronisch kranken Menschen, denen bislang von den Ligen unbürokratisch
geholfen werden konnte, die allerdings keine IV-Leistungen beanspruchen
wollten, sich bei der IV anmelden. „Dies bringt einen erheblichen
bürokratischen Mehraufwand mit sich, für die IV-Organe und die
Gesundheitsligen“, sagt der Geliko-Sekretär. Die BSV-Massnahmen drohen zum
Eigentor zu werden.
Die Ligen werfen dem BSV weiter vor, mit der Praxisänderung dem Kerngedanken
der IV zu widersprechen. „Das Prinzip ‚Eingliederung vor Rente’ scheint uns
akut gefährdet“, sagt Daniel Adamus von der Schweizerischen
Diabetes-Gesellschaft. Die Beratungen der Gesundheitsorganisationen seien ja
dazu gedacht, die betroffenen Menschen selbstständig, sozial integriert und
erwerbstätig zu erhalten. GBI-Gewerkschafterin Rita Schiavi schliesst sich an:
„Bis ein IV-Gesuch gestellt wird und bis die IV ihre Eingliederungsmassnahmen
getroffen hat, vergehen meistens schon drei bis vier Jahre ohne Arbeit. Die
Chancen einer Eingliederung verschlechtern sich so erheblich.“ Deshalb seien
Institutionen, die die Leute frühzeitig erfassen und wieder eingliedern, sehr
wichtig. Nur so könnte man die steigenden IV-Ausgaben in den Griff bekommen.
Umverteilen oder sparen?
Die Gesundheitsorganisationen erkennen
im Subventionsabbau eine Sparmassnahme. Dorothea Zeltner, BSV-Bereichsleiterin
Werkstätten, Wohnheime, Organisationen, sieht das anders: „Es handelt sich nicht
um eine Sparmassnahme, sondern um eine Umverteilung der IV-Gelder von
Organisationen, die sich primär an Kranke richten, zu den eigentlichen
Behindertenorganisationen.“ Für 2004 stünden gesamthaft unwesentlich mehr
Mittel zur Verfügung wie für das Vorjahr, untermauert Zeltner ihre Aussage.
Weshalb dann diese Übung? Zeltner führt zwei Hauptgründe an. Einerseits einmal
die Schuldenbremse, welche für den geringeren Mittelzuwachs verantwortlich sei.
Diese verlangt, dass die Ausgaben bundesweit nicht mehr steigen als die
Einnahmen. Die Anzahl der IV-BezügerInnen steigen aber stärker an als der
Mittelzuwachs. Andrerseits sei der bisher verwendete Invaliditätsbegriff, so
Zeltner, nicht gesetzeskonform, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in
einem Urteil Anfang Jahr rüffelte.
Trotz massiver Kritik und ausgewiesenem Mehrbedarf seitens der Ligen ist die
BSV-Vertreterin von der Richtigkeit der geplanten Massnahmen überzeugt. Dass
sich die IV mehr Arbeit und Kosten einhandeln könnte, glaubt sie kaum.
Ausserdem gelte der restriktivere Invaliditätsbegriff ab 2004 vorerst nur für
neue Leistungen. Die bestehenden Leistungen würden dagegen in Absprache mit den
Ligen schrittweise bis 2010 angepasst. „Wenn das Geld knapp wird, muss man sich
eben wieder genau aufs Gesetz besinnen“, sagt sie.
Die
Gesundheitsligen indes wollen den Abbau nicht einfach hinnehmen. Mit Lobbying
im Parlament und dem Schritt an die Öffentlichkeit erhoffen sie sich
Konzessionen vom BSV. Möglicherweise werden sie auch den umstrittenen
Behindertenbegriff vor Gericht anfechten, der vor allem politisch und nicht
juristisch interpretiert sei, so die Kritik. (mü)
Kasten
Unverzichtbare Aufgaben
Die Schweizer Gesundheitsligen, wozu
etwa Krebs-, Rheuma-, Lungenliga oder Diabetes-Gesellschaft gehören, beraten
und betreuen Menschen mit Gesundheitsschäden. Sie leisten Prävention, helfen
bei der Früherkennung und Stabilisierung von Krankheiten sowie bei der sozialen
und beruflichen Integration. Die Ligen sprechen ein anderes Publikum, eben
krankheitsbetroffene Menschen, an als Behindertenorganisation wie Pro Infirmis
oder die Behinderten-Selbsthilfeorganisation Agile. Die Ligen finanzieren sich
massgeblich durch die öffentliche Hand, Legate, Spenden und Mitgliederbeiträge.
Die Anteile variieren jedoch von Liga zu Liga. (mü)